Lützerath

Ab dem 5. November 2020 führt mich die Arbeit an einem Film und kleinen Reportagen von Dannenrod nach Lützerath. Ein Blick über meine Schulter und hinter die Kulissen erzählt von der spektakulären Geschichte einer Dorfbesetzung, die direkt auf einem Kohlevorkommen enstand. Von "BBC" bis zur "New York Times" zieht das Dorf das Interesse internationaler Medien an. Es wird zur richtigen Geschichte zur richtigen Zeit. Doch alles fing klein an.

3. September 2021

Eines meiner ersten Fotos in Lützerath. Ich schlage mir ein Zelt auf und bin nun schon vermutlich seit einiger Zeit da. Die Geschichte einer Besetzung, die direkt auf einem Kohlevorkommen entstehen soll, hat mich fasziniert, weil das öffentliche Interesse vorhanden ist und die Räumung am Hambacher Forst, einer vergleichbaren Struktur, offiziell rechtswidrig ist. Ich plane ein, die komplette Besetzung journalistisch zu begleiten. Ich rechne mit einer Räumung des Ortes innerhalb kürzester Zeit. Davon, dass meine Reise durch die Klimabewegung Jahre dauern wird, ahne ich nichts. Später lerne ich auch die Arbeit von Steffen Meyn kennen, der während einer Reportage verunglückte und spreche zu ''Journalismus abseits der Massengesellschaft" im Filmmuseum Düsseldorf im Vorprogramm des Films "VergissMeynNicht".

5. September 2021

Ich fotografiere ein Baumhaus, dass "Hambi" genannt wird. Äste scheinen das Baumhaus wie Nervenbahnen eine Nervenzelle zu verknüpfen. Es wird 2023 im Zuge der Räumungsarbeiten zerstört. Dieses Foto entsteht mit einem 50mm Old FD bei einer Blende von 1,4. Zu meinem Objektiven zählt außerdem noch ein 24mm, ein 28mm und ein 135mm der Canon-Serie aus den 70ern.

12. September 2021

In Lützerath entstehen die ersten Türme und Hütten. Die Bewohner*innen darf ich am Anfang nur selten filmen. Andere Filmemacher*innen, die noch affirmativer arbeiten, haben etwas mehr Glück. Dass ich mich als eigenständigen Beobachter sehe, sorgt teilweise für Skepsis. Einige Male filme ich Botschaften für den Campkanal. Dadurch bekomme ich Zugang zu besseren Drehgelegenheiten und lerne mehr Menschen kennen.

Auf meinen ersten Fotos im September 2021 sieht der Ort sommerlich und bunt aus. 

In seinen letzten Tagen wird er am Schnittpunkt zwischen Medien, Staatsgewalt und eines fossilen Energiekonzerns in eine Art Hölle verwandelt. 

Schreie hallen von den Bäumen, an denen Aktivisten sich dem Zugriff kletternder Polizisten entziehen. Von draußen wartenden Mitstreiter*innen trennt sie ein Wall aus geparkten Polizeifahrzeugen, Wasserwerfern, etwa dreitausend Polizisten. 

Helikopter, Pferde und Kampfhunde werden von der Polizei angefordert. Alles scheint gleichzeitig und an vielen Ecken zu passieren. An einer Stelle harren Aktivist*innen in einem Baumhaus aus, dahinter werden, wie für einen Stunt inszeniert, Bäume mit schwerem Gerät zerschreddert. 

Lützerath soll rechtzeitig dem Erdboden gleich gemacht sein, damit der Spuk endet, bevor die Mobilisierung der Klimabewegung stärker wird. 

In der Dunkelheit zieht zur Unzeit ein Sturm auf.

Heute ist Lützerath "rückgebaut", wie es RWE Power in der Konzernsprache ausdrückt. 

Aber im Kampf um die Kohle geht es, wie später klar wird, nicht immer ehrlich zu. Denn "rückgebaut", ein Begriff aus der Architektur, das will im bergbaulichen Kontext meinen "zerstört". Denn nicht nur das ganze Dorf, dass Bomben während der Zeit des Nationalsozialismus überstand und auf eine fast tausendjährige Geschichte zurückblickt, wird dem Erdboden gleich gemacht, sogar der Erdboden selbst wird danach abgetragen.

Für ein vermeintlich letztes deutsches Energieopfer.

 

In ersten Plenas besprechen die Aktivist*innen ihre Öffentlichkeitsarbeit. Sie organisieren das Camp und stellen Thesen auf. Dabei entscheiden sie sich, die Klimakrise nicht losgelöst von sozioökonomischen Prozessen, sondern als Folge des kapitalistischen Wirtschaftens anzusehen. Sie geraten daraufhin in Konflikt mit der Öffentlichkeit, die zwar Interesse an ihren Statements hat, sie allerdings lieber als reine Umweltschützer*innen benennen möchte. Mein Wohnwagennachbar, der Campaigner Janus Petznik twittert später: "Umweltaktivismus ohne Klassenkampf ist bloß Gärtnern". Ein Zitat von Chico Mendes, einem brasilianischen Gewerkschaftler. Petznik, der sich "Momo" nennt, versteht sich als Arbeiterkind. Bei den Arbeiter*innen in Deutschland kommen die alten Schlagworte allerdings meinem Anschein nach nicht an. Sie folgen der öffentlichen Meinung, die erheblich von Springer geprägt wird und in der Klimaaktivismus mit Elitarismus assoziiert wird. Auch ich habe am Anfang kein tieferes Verständnis für solche Sprache.

Parallel dazu orientiert sich die Organisationsform des Camplebens anhand des französischen Begriffs "Zone A Defendre". Der Ort soll zivilgesellschaftlich und physisch verteidigt werden, um, wenn es hart auf hart kommt, die Mine Garzweiler II in ihrer Ausdehnung zu stoppen.

Mit einem kleinen Bungalow gelingt es einer ebenso kleinen Truppe Besetzer*innen ein Haus dauerhaft zu besetzen, dass von den Sicherheitsleuten, von denen es mitten im Dorf zu diesem Zeitpunkt noch wimmelt, aufgegeben wird. Sie nutzen es fortan für ihre Zwecke. Zu Beginn als freien Wohnraum und für Partys.

Eckhardt Heukamp, der aufgrund seiner Bewilligung eines Protestcamps auf seinem Grundstück zu einer Schlüsselfigur des Protests wird, löst seine Divergenz mit den Aktivist*innen etwas auf. Bis zum Schluss bleibt die Allianz von konservativem Landwirt, der früher der CDU nahe stand und linken Aktivist*innen ein besonderer Spagat. Einige Male kommt es zum ruppigen Aufeinanderprallen verschiedener politischer Ideologien. "Staatskommunismus ist wirklich das Letzte, was wir hier wollen!" ruft ein Aktivist bei einem Streitgespräch mit Heukamp.

Die Greenpeace-Kletterkids machen eine Aktion, die ich mit der Kamera begleite. Sie erscheint bei REUTERS.

Die Mine Garzweiler II kommt Lützerath immer näher. An manchen Tagen baggert RWE direkt vor dem Dorf, dessen Zukunft aufgrund des Rechtstreits mit Eckhardt Heukamp noch nicht ganz besiegelt ist. Ich lerne die schwierige Lichtstimmung der Bagger und Förderbänder mit Analogobjektiven in Szene zu setzen - eine Fähigkeit, die mir später noch hilfreich sein wird.

Ich lasse mir von den Kampaigner*innen die Geschichte und Strategie des Protests erklären. Der Protest begann mit einer Mahnwache, die sich nach der Entwidmung einer Straße gegründet hat. Sie wird mehrere Jahre aufrecht erhalten. Erst der Schulterschluss mit dem Grundbesitzer Heukamp ermöglicht die "Besetzung" Lützeraths, die somit zunächst völlig legal vonstatten geht. Während ein Sturm die Aktivist*innen aus provisorischen Behausungen drängt, will Heukamp ihnen erlaubt haben, eine leerstehende Villa zu bewohnen. Von nun an wird sie permanent von Aktivist*innen bevölkert.

Lakshmi Thevesagayam, deren Eltern aus Sri Lanka stammen, engagiert sich in der Öffentlichkeitsarbeit und mitorganisiert eine BiPoc-Bewegung, die sich für die Stimme Nichtweißer einsetzt. Sie bezieht ein Zimmer in der "Villa" Eckhardt Heukamps. Häufiger kommen nun internationale Aktivist*innen, beispielsweise aus den USA, Mexiko, Argentinien, Syrien, Uganda und aus Kolumbien nach Lützerath. Eine durchaus große gedankliche und organisatorische Leistung. In der Öffentlichkeit wird allerdings beinahe nie darauf Bezug genommen. Kapitalismuskritik, die die Sprecher*innen prominent äußern, wird einige Male aus den Interviews und Beiträgen geschnitten.

Juan Pablo Gutierrez, ein Vertreter der Yukpa-Indigenen aus Kolumbien ist einige Male in Lützerath Gast. Obwohl ihn die Lützerather oft bei Demonstrationen prominent platzieren, wird sich kaum mit der Perspektive der Yukpa auseinander gesetzt, die unter dem Kohleabbau in Kolumbien leiden. Die Steinkohle wird höchstwahrscheinlich auch für die Kraftwerke Datteln etc. nach Deutschland importiert.

Lützerath ist der erste Ort der europäischen, weiß geprägten Klimabewegung, an dem auch Nichtweiße eine nennenswerte Stimme haben. Er wird international. Bei einer ersten Tripod-Aktion sieht man Aktivist*innen, die später im Demoblock der BiPoc For Future mitlaufen, der an den Anfang des Demozuges gestellt wird.

Aktivist*innen besetzen am 08. Januar den Lützerather Paulshof und vertreiben so die RWE-Security komplett aus dem Dorf. Die bulligen, weißen Pick-Ups von RWE im Kern des Weilers sind nun Geschichte. Im Paulshof findet ab jetzt eine Museums-Installation ihren Platz. Der Hof, der durch einen Verkauf in den Urkunden 1168 n. Chr. das erste Mal erwähnt wird, beherbergt inzwischen queerfeministische Künstler*innen und Aktivist*innen, die in beiden Flügeln des Hofes Zimmer beziehen. In einer Scheune finden Kulturveranstaltungen statt. An einigen Tagen werde ich von Theatercrews und Music-Acts überrascht, die Lützerath zu einem niedrigschwelligen Kulturort machen.

Später werden auch noch drei Hallen an den Ortsrändern besetzt. Sie werden für die "Küche Für Alle", in der es zwei mal am Tag essen gibt und für eine Skaterhalle gebraucht. Zwischen den Hallen ensteht eine kleine symbolische Landwirtschaft und Lützerath wird ein Ausflugsziel für Familien und Schulklassen. Umgesiedelte berichten auf Sonntagsspaziergängen vom Verlust ihrer Heimat. Am 04. April verkauft Eckhardt Heukamp nach mehreren erfolglosen Gerichtsverhandlungen seine Gebäude und Grundstücke an Minenbetreiber RWE.

Ich beschließe Lützerath zu verlassen, da kein neuer Auftrag reingekommen ist. Die meiste Zeit in Lützerath habe ich etwa fünfzig Bücher aus allen Themenbereichen und Weltanschauungen, vom Kapital bis zur "Öffentlichen Meinung" gelesen. Meine Bildung entsteht zugegebenermaßen erst hier. Dadurch, dass es die meiste Zeit keine schnelle Internetverbindung gibt, lese ich mich quer durch Sachbücher und philosophische Werke. Ich habe den Ort schrumpfen und wachsen gesehen. Da er einmal zu sehr schrumpft, es zu einsam wird, zieht ein Hund bei mir ein. Die Organisationsform der Aktivist*innen machen meine Erfahrungen so divergent, so andersartig, dass für mich ein Lebensabschnitt zu Ende geht.

Am 28. November kommt es zu einer kleinen Sensation, von der die "Aachener Zeitung" berichtet. Die CDU geführte Stadt Erkelenz, zu der Lützerath gehört, protestiert diametral zur Linie der Landespolitik ebenfalls gegen eine Räumung. "Wir wollen jeden Quadratmeter, den wir in Erkelenz erhalten können, erhalten. Dazu zählt auch Lützerath" sagt Dr. Hans-Heiner Gotzen, der bei der Stadt beschäftigt ist.

Am 6. Dezember werden alle Häuser vom Stromnetz gekappt, obwohl in einem Mietshaus noch Mieter*innen wohnen. Der Stromanbieter, der Ökostrom verteilt, sendet Akkus und Solarpanels für eine provisorische Infrastruktur.

Zu den Bewohner*innen, die vom Stromnetz getrennt werden, gehört der selbständige 3D-Entwickler Marten Reiß, der im November die Sendung "Wetten Dass...?" gewinnt und das Preisgeld unter anderem für den Erhalt Lützeraths spenden will. Hinter den Kulissen der Sendung führt die Guerilla-Aktion seinen Erinnerungen nach zu Aufregung, denn Showmaster Gottschalk und die Produktion sollen vom Aktivismus überrascht worden sein.

Aus der militanten Szene kommt es zu einer kleinen Vergeltungsaktion gegen die Stromabschaltung, bei der ein Trafo im Tagebauvorfeld, der möglicherweise den Tagebau mit Strom versorgt, in Brand gesetzt wird. 

Ab dem 23. Dezember tritt ein Betretungsverbots in Kraft. Ein Eilverfahren dagegen scheitert. Es soll zu einer Räumung kommen.

Über zwei Jahre für die Dokumentation der Klimabewegung sind vorbei. Nun sinken die Temperaturen bis -6 Grad. Ich bekomme Fieber, reise ab und kehre Lützerath den Rücken. Für mich sind die Dreharbeiten endgültig beendet. Die ganz großen Bilder scheinen in Lützerath nicht auf meine Speicherkarte zu wollen, zudem denke ich nicht, mit den finanziell besser ausgestatteten journalistischen Produktionen mithalten zu können. Das Resultat meiner Arbeit ist eher enttäuschend.

Der erste Januar 2023. Ich bin wieder in Lützerath. Eine ehemalige Journalistin hat mich unterstützt und passt jetzt auf meinen Hund auf. Eine Produktion für einen öffentlich rechtlichen Sender will mich buchen, allerdings sind die Vertragsbedingungen hochprekär. Ich trenne mich von ihnen und bin stattdessen über eine Filmproduktion aus Berlin akkreditiert, die auch in Auftrag eines ÖR-Senders produziert. 

Ein neuer Tag zurück im Dorf. Eine Gruppe Aktivist*innen hat sich an einem Reihenhaus, genannt das "Mietshaus" eingefunden, in dem ich vorher keine Dreherlaubnis bekam. Weil nun bekannte Aktivist*innen dort wohnen, die kein Filmverbot aussprechen, beschäftige ich mich mit der Dokumentationen der Mietshäuser. Zu Beginn werden die Fenster des ehemaligen Mietshauses eingemauert.

Von den Morgenstunden, über Plena und die Organisation für eine möglicherweise zwei Wochen andauernde Besetzung, begleite ich Indigo aus dem Hambi, die Buchautorin und Influencerin Milena Glimbovski, den Aktivisten Tadzio Müller, den Autor und Aktivist Raphael Thelen, die Ende-Gelände Aktivistin Dina Hamid und weitere, die teilweise unbekannt bleiben wollen. Für Lützerath und den gesamten Kampf der Klimabewegung hat Dina Hamid einen Gewaltbegriff, der mit Teilen der Öffentlichkeit und der Polizeieinsatzleitung in Reaktion und Widerspruch steht. Ihrer Ansicht nach geht Gewalt von den Emissionen des Tagebaus aus.

Das Haus von Landwirt Eckhardt Heukamp hat nun den Charakter eines Museums. An seinem Bett steht immer noch seine Apotheke, daneben hängt ein Motivationsspruch "Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.". In einer Scheune, ein alter Pferdewagen aus vergangenen Zeiten. Später, als sein Wohnhaus abgerissen wird, sehen wir seinen Kochtopf auf dem Herd.

Jetzt, wo sich der Konflikt zuspitzt und immer mehr Medienvertreter*innen nach Lützerath kommen, wird den Zuschauer*innen ein realistischeres Bild des Ortes vermittelt. Er hat sich inzwischen jedoch verändert. Als die Polizei weiter in Richtung Dorf vordingt, brennen am zweiten Januar Barrikaden aus Heuballen und Autoreifen. Das Tempo der Räumung hat viele Aktivist*innen überrascht. Die Presse ist nun extrem präsent. 

Kurz vor der Räumung Lützeraths, am 11.01.2023 schließen sich über 700 Wissenschaftler und prominente Persönlichkeiten einem offenen Brief von Wissenschaftlern an die NRW Politik um Ministerpräsident Hendrik Wüst und Wirtschaftsministerin Mona Neubauer an. Sie fordern einen Stopp der Räumung und äußern „substanzielle wissenschaftliche Zweifel an der akuten Notwendigkeit einer Räumung“. Sie führen an, dass der Abriss Lützerath eine politische Entscheidung sei und dass mehrere Gutachten belegt hätten, dass er entgegen entsprechender Verlautbarungen für die Versorgungssicherheit nicht notwendig ist. "Vielmehr steht die Förderung und Verstromung dieser Kohle einer am Pariser Klimaabkommen und dem europäischen Klimagesetz ausgerichteten Energiepolitik entgegen". Auch fordern sie mit dem Erhalt Lützeraths ein Signal zur Abkehr von fossilen Brennstoffen.

Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck liefert ein solches Signal nicht. Er wird am 11. Januar zu Lützerath zitiert. Er sagt: "Die leergezogene Siedlung Lützerath, wo keiner mehr wohnt, ist aus meiner Sicht das falsche Symbol"¹

1. https://www.ardmediathek.de/video/phoenix-vor-ort/luetzerath-falsches-symbol-fuer-protest/phoenix/Y3JpZDovL3Bob2VuaXguZGUvMzA0MjE1MQ

Nähert man sich dieser Aussage aus meiner Bodenperspektive, muss man feststellen, dass dort zu jeder Zeit Aktivist*innen gewohnt haben. Nachdem in Lützerath durch die Besetzungen zusätzlicher Wohnraum entstand, verriet ein Blick in die Zimmer, dass sich dort Aktivist*innen und Künstler*innen durchaus ordentlich und dauerhaft häuslich eingerichtet hatten. Einige haben danach Probleme, eine Wohnung zu finden, denn die leerstehenden Häuser versorgten sie mit unbürokratischem Wohnraum. Melderechtlich relevant, sollen zu diesem Zeitpunkt jedoch nur noch etwa zehn Menschen gewesen sein, die zu einem Zeitpunkt hinzugezogen sind, als der Ort bereits durch die fast abgeschlossene Umsiedlung angezählt war.

Das Kohlevorkommen, dass Lützerath zu deutlich mehr als einem bloßen Symbol machte, soll bei mehr als 110 Millionen Tonnen Kohle liegen.

Während Aktivist*innen Barrikaden errichten, schirmt der Sicherheitsdienst den Bagger ab, der vor Lützerath seine Arbeit tut. Polizeitrupps unterstützen dabei, die Baggerarbeiten zu schützen. Die Bilder von Polizisten, die knapp vor den Baggerschaufeln an einem laut RWE abbruchgefährdeten Bereich stehen, sind aufmerksamkeitsstark. Andere Pressevertreter sind den Empfehlungen der Polizei gefolgt und kommen morgens und Abends mit dem Polizeibus. Auch, weil ich mich nicht von den Fahrangeboten der Polizei abhängig mache, bin ich an diesem Schauplatz der wohl einzige Reporter.

In Lützerath ändert sich die Lichtstimmung durch das Flutlicht der Polizei und der Kohlebagger. Ab jetzt werden die Baumhäuser abgefilmt und angestrahlt. Überall in den Straßen werden Barrikaden errichtet. Den Ort, in dessen Gärten ich meine ersten philosophischen Bücher gelesen habe, kann ich kaum noch erkennen. Wird er doch erhalten bleiben?

Die Mine rückt immer näher an Lützerath heran. Auch an den Rändern zum Tagebau bauen Aktivist*innen Barrikaden. Wenn sie von der Polizei geräumt werden, werden Neue errichtet. Zu einer massiven Mobilisierung kommt es noch nicht, sie wird erst auf den 14. Januar organisiert.

Viele bodennahe Strukturen werden geräumt. Bei einem Rundgang mit einer Fotojournalistin zeigen sich beklemmende Bilder. An einer der Hallen findet gerade eine Festnahmeaktion statt. Die Aktivist*innen winken von den Baumhäusern. In der Nacht sehen sie aus, wie Astronauten auf einem ungemütlichen Planeten. Unter ihnen patrouillieren Polizeitrupps.

Das Fenster und die Türen bleiben jetzt meistens zu: Raphael Thelen, ein Romanautor und Klimaaktivist der Letzten Generation, der Teil der Crew des "Mietshauses" war, wird von der Polizei festgenommen, als er sich die Beine vertreten will. Später kappt die Polizei das Netz aus Solarstrom. Die Aktivist*innen im Haus benutzen einen Dieselgenerator. Ihnen wird klar: Die Räumung könnte viel schneller ablaufen, als gedacht. Die Fotojournalistin und ich hüpfen in letzter Sekunde an Polizeitrupps vorbei zurück auf eine Leiter auf die Terasse des "Mietshauses". Bis die Leiter steht, wir müssen dazu mehrmals unsere Protagonist*innen anrufen, vergeht etwas Zeit, in der wir im Schatten einer Hecke Schutz suchen. Wir schaffen es zurück in das "Mietshaus". Anderen Journalist*innen, die die benachbarte "Villa" betreten wollen, wird von Polizisten gesagt: "Wenn ihr da reingeht, kommen wir mit."

Das "Mietshaus" wird als letzte Hausstruktur geräumt. In den Stunden zuvor trifft dieses Schicksal bereits den Paulshof, die "Villa" und das Haus von Eckhardt Heukamp. Im Paulshof berichten die Aktivisten davon, unterbesetzt gewesen zu sein. Eilig werden persönliche Gegenstände vor Eintreffen der Polizei verbrannt. Da einige Besetzer*innen ihre Drohung, den Hof "zu verteidigen" wahr machen, fliegen vereinzelt Molowtowcocktails auf Polizeibeamte, die den Hof laut Besetzern mit Schusswaffen stürmen. Ernsthaft verletzt wird niemand. Trotz tausender Journalist*innen, die Lützerath besuchen, gibt es keine Aufnahmen von den Festnahmen. Lediglich ein Journalist befindet sich meinen Quellen zufolge im "Paulshof" - er ist kurioserweise jedoch nur für einen Podcast beschäftigt - hat keine Kamera dabei.

"Neben ergiebigen Niederschlägen (...), stellt vor allem der Wind eine Gefahr für Aktivisten und Einsatzkräfte dar: Am Samstag drohen schwere Sturmböen bis 90km/h (Windstärke 10) - vor allem in den hochgelegenen Baumhäusern besteht für alle Beteiligten akute Lebensgefahr."

13.01.2023, donnerwetter.de

RWE beginnt nun mit der Zerstörung der Häuser, wie dem "Bungalow", der ersten Hausbesetzung Lützeraths. Das Wohnhaus von Landwirt Heukamp wird mit dem Einschlag einer Baggerschaufel entwertet. Am Paulshof reißt der Konzern als Erstes einen Teil der Hausfassade nieder, an dem eine Regenbogenflagge gemalt wurde. Der richtige Abriss erfolgt später. Die Strategie: Sollten es am nächsten Tag Demoteilnehmer bis in den Ort schaffen, sollen die Ikonen, die den Ort an den Wochenenden zu einem beliebten Ausflugsziel gemacht haben, beschädigt sein.

"Apocalypse Now" ist einer der popkulturellen Bezüge in Kommentaren zu meinen Fotos, die ich notgedrungen auf dem eher unjournalistischen Medium Twitter teile. Da der Konflikt um das Klima sich so tief in der westlichen Lebensweise abspielt und die Auswirkungen und offenen Fragen derart weitreichend sind - das zeigt auch die Gegenwehr aus der Branche gegen Journalismus, der ökologische Probleme betont (Aktivismusdebatte) - habe ich in Lützerath in der Tat ein "Herz der Finsternis" unserer Kultur ausmachen können. Vom Abriss denkmalgeschützter Gebäude, die ich inzwischen derart gut kenne, wird mir ebenfalls schlecht.

Bis zum nächsten Tag, dem 14. Januar und bis sich eine Demo nach Lützerath bewegt, halten sich einige Kletteraktivist*innen im Sturm. Sie haben die Nacht teilweise in dünnen Zweigen der Bäume verbracht. Die Polizei will aber nur knapp sechshundert Aktivist*innen aus Lützerath evakuiert haben.

Am Nachmittag bricht im Südosten von Erkelenz das Mobilfunknetz zusammen. Tausende wütende, meist junge Demonstrant*innen, hauptsächlich Teil der Fridays For Future Bewegung, strömen aus Richtung der geretteten Ortschaften in das Tagebauvorfeld. Sie werden mit Knüppeln, Schlägen, Pferden, Wasserwerfern und Pfefferspray vom Betreten Lützeraths gehindert. Auf einem Bild, das im Internet kursiert, steht ein Aktivist direkt am Abgrund zum Tagebau, während ein Polizist einen Kampfhund auf ihn hetzt, der zum Biss ansetzt. Journalist*innen werden in diesem Chaos hart attackiert.

Zwei Tage später, um 12:48 verlassen die Anarchisten "Pinky & Brain" freiwillig einen Tunnel, den sie heimlich in einer alten Ruine gegraben haben. Der Tunnel liegt ausgerechnet in der Nähe des leerstehenden Wohnwagens, der mir zur Unterkunft ausgeliehen wurde. Die Arbeiten waren mir nie sichtbar. Die Arbeiter geben weder mir, noch anderen ein Interview. Einen Hinweis für die Aktion gibt es jedoch: "Friede den Hütten, Krieg den Palästen" steht lange Zeit vor der Räumung an der Ruine vor dem Tunnel. Davor patrouillieren nach Entdeckung des Tunnels, der den Polizeipräsident der Stadt Aachen unruhig auf und ablaufen lässt, tagelang Polizeibeamte.

Lützerath ist kurze Zeit später Geschichte und für RWE endet die Episode einer spektakulären Besetzung, direkt auf einem Kohlevorkommen. 

Für Deutschland enden, so sagen es Expert*innen, die Ambitionen auf Integrität zum 1,5-Grad-Ziel des völkerrechtlich bindenden Abkommens von Paris, weil die Verstromung der restlichen Garzweiler-Kohle durch Einsparungen in anderen Sektoren laut Gutachten nicht auszugleichen ist. 

Deutschlands wichtigster Energiekonzern sieht sich auf der politischen Bühne mit Habeck und Neubauer dennoch auf einem 1,5 Grad Pfad in Einklang mit dem Pariser Klimaschutzabkommen. Der Konzern ist jedoch ebenfalls Europas größter Kohlendioxidproduzent - und hat an Glaubwürdigkeit verloren.

Für mich endet die wohl zeitintensivste und packendste Geschichte meines Reporterlebens, bei der aus Monaten Jahre werden.

Einen Blick werfe ich auf das ehemalige Lützerath zurück, das völlig zerstört ist. Die Fluchtlichter der Polizei im Dunkeln und die Videoüberwachungsstationen gleichen sich nun mit den Fotos des ersten Ortes der Klimabewegung, den ich besucht habe: Dannenrod.

Globale Merkmale der Besetzungen

Die Auseinandersetzung um infrastrukturelle Bauvorhaben oder um Gebiete, an denen fossile Vorhaben gestört werden sollen, wird "territorialer Kampf" genannt. Sie sind kein alleinig deutsches Phänomen. Ein amerikanisches Beispiel ist die Kampagne "Defend The Atlanta Forest", bei der am 18.01.2023 der Demonstrant Manuel Esteban Paez Terán von der Polizei erschossen wird, der, während es passiert, die Arme hoch gehalten haben soll. Waldbesetzer*innen hatten sich Ende 2021 vor Ort niedergelassen, um zu verhindern, dass die Polizei ein Trainingszentrum, dessen Teil ein nachgestelltes Dorf sein soll, in der Botanik errichtet. In den deutschen Medien wurden weder die französischen Wurzeln der ZAD, noch die amerikanische Waldbesetzung mit Lützerath in einen Kontext gehoben, weshalb viele Medienkonsument*innen die Besetzungen bis heute für ein deutsches Phänomen halten.

Die Bilder, die der Protest erzeugte, überraschten die Öffentlichkeit, ähneln aber Videos der versuchten Räumung der ZAD Notre-Dame-des-Landes, die ebenfalls für die Belange von Bauern eintrat und gegen ein Infrastrukturprojekt aus Frankreich Partei ergriff. 2018 verkündete Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, dass das Vorhaben, einen Flughafen zu bauen, aufgegeben wurde. Auch die errichteten Strukturen ähnelten denen der ZAD Notre-Dame-des-Landes.

Der Kohleausstieg im Rheinischen Revier als Symbol der Politik

Mitte bis Ende Januar 2023 wird bekannt, dass es sich bei dem Kohleausstieg im Rheinischen Revier, der für das Jahr 2030 vorgesehen ist, um ein Nullsummenspiel handeln könnte. Mit diesem Kohleausstiegs wurde die Abbagerung Lützeraths beschlossen, gegen die sich zuvor das deutsche Parlament ausgesprochen hatte. Da die Kohle ab 2030 aber sowieso schwierige Wettbewerbsbedingungen aufgrund der höheren Zertifikatspreise am Energiemarkt hat, würde die Kohle von 2030 bis 2038, dem bisherigen Ausstiegsdatum des Kohlekompromisses, unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nach Ansicht der Expert*innen nicht mehr genutzt werden. "Der vorgezogene Ausstieg aus der Braunkohle hat im wahrscheinlichsten Szenario keine Klimaauswirkungen" sagt ein Sprecher von Eurora Energy Research. Bundeswirtschaftsminister Habeck hatte am 04. Oktober 2022, als er gemeinsam mit RWE-Chef Markus Krebber eine Pressekonferenz zum vorgezogenen Kohleausstieg 2030 gab, von einem guten Tag für den Klimaschutz gesprochen.

Ebenfalls wird bekannt, dass der Kohleausstieg im Jahr 2030 an eine Vereinbarung geknüft ist, laut der der Bund den Bau flexibler Gasinfrastruktur ermöglicht, die später zu hundert Prozent für blauen oder grünen Wasserstoff genutzt werden kann. RWE soll nun, allerdings nur, bei "gegebener Wirtschaftlichkeit", also mit vermindertem unternehmerischen Risiken, an den Standorten seiner Kohlekraftwerke in den staatlich subventionierten Gas-Markt einsteigen. Bei dieser Transformation, an dessen Ziel eine Versorgung mit Wasserstoff stehen soll, wird auf einer Seite RWE zugesagt, die ergiebige und profitable Kohle unter Lützerath auszukohlen, und zum anderen eine von Steuergeld bezahlte Wirtschaftlichkeit geschaffen. Ob sich im letzten Zug die Transformation zum grünen Wasserstoff vollzieht, bleibt aber mindestens bis 2035 offen.

 

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